Seit einer Mitteilung des arzneimittel-telegramm im Dezember 2019 ist die Anwendung Lavendelöl bei Brustkrebspatienten in kritische Diskussion geraten. Ein einfach zugänglicher Fallbericht von Henley et al. 2007 will von einer östrogenartige Wirkung von Lavendelöl-Produkten berichten. In einem weiteren Fallbericht von Ramsey et al. wurde dieser Verdacht 2019 weiter diskutiert und bestärkt. Bei der beschriebenen Wirkung beider Autoren handelt es sich durchwegs um präpubertäre Gynäkomastie bei Kindern. Das arzneimittel-telegramm hat im Jänner 2020 die Problematik mit dem Leserbrief eines Apothekers erneut aufgegriffen. Dabei stellte das arzneimittel-telegramm zusätzlich die These auf, dass Lavendelöl mit der Entstehung von Brustkrebs in Zusammenhang stünde und somit für Patienten mit östrogenrezeptor-positiven Tumoren sehr gefährlich sei. Zudem warnen die Autoren neben endokrinen und möglicherweise kanzerogenen Effekten auch vor schweren allergischen Reaktionen (arzneimittel-telegramm 12/2016). Sie fassen insbesondere für onkologische Patienten folgendes zusammen:
„Speziell für Brustkrebspatientinnen erscheint es uns im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes ratsam, Lavendelöl-haltige Produkte zu meiden.“ (arzneimittel-telegramm 12/2019)
Auch die NGO Breast Cancer Action Germany empfiehlt in einem Artikel von 26. Jänner 2020 Lavendelöl bei Brustkrebs vorsorglich zu meiden und nimmt dabei Bezug auf einen Leserbrief eines Apothekers, der bezüglich dieser Wirkung beim arzneimittel-telegramm angefragt hat. Gleichzeitig vermischen die Autoren die Bewertung der beunruhigenden Fallbeispiele mit Effektivitäts- und Sicherheitsbeurteilungen vom vollzugelassenen Phytotherapeutikum Lasea® (standardisierte Lavendelöl-Kapseln mit dem Wirkstoff Silexan®). Zu guter Letzt subsummieren sie, dass alle Lavendelduft-enthaltenden Produkte und Kosmetika gemieden werden sollen.
Tatsächlich werden bei dieser Thematik Äpfel mit Birnen verglichen. So sind Äpfel mit Birnen zwar verwandt, aber nicht dasselbe. Schon 2019 regte die Publikation von Henley eine heiße Diskussion an. Kommentare und Kritiken an der Methodik dieser Fallberichte hatten keinen so hohen Impact Faktor wie die zuvor erschienene Publikation mit der Warnung vor Lavendelöl. Brandolinis Gesetz besagt, es ist immer mit mehr Aufwand verbunden eine sensationalistische Meldung zu revidieren als sie (erst) zu gebären:
“The amount of energy needed to refute bullshit is an order of magnitude bigger than to produce it.”
„Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Größenordnung mehr Energie als dessen Produktion.“
Tatsächlich handelt es sich bei der Lavendelöl-Panik um ein besonderes Gusto-Stückerl aus der Welt des sogenannten Bullshit-Asymmetrie-Prinzips.
Ramsey et al. rekrutierten geeignete(?) Patienten aus dem Nicklaus Children’s Hospital und der pädiatrischen endokrinologische Klinik der University of California (Irvine) mit einer längeren Exposition mit einem „ätherisch-Öl-Produkt“. Bereits hier sollte der Leser sich fragen: Ätherisch-Öl-Produkte? Bei einem Publikationstitel, der wie folgt lautet: „Lavender Products Associated With Premature Thelarche and Prepubertal Gynecomastia: Case Reports and Endocrine-Disrupting Chemical Activities”?
Die vier (!) dokumentierten Fälle betrafen drei Mädchen und einen Buben:
Fall 1: Ein 6-jähriges Mädchen mit einer einseitigen Brustknospe, das Lavendelöl (sic) in Form des Eau de Cologne „Mi Tesoro Agua de Violetas“ seit früher Kindheit ausgesetzt war. Sechs Monate nach Absetzen dieser Exposition bildete sich das Drüsengewebe zurück.
Fall 2: Ein knapp 3-jähriges Mädchen mit einer einseitigen Brustentwicklung, das regelmäßig einer Lavendelöl (sic) enthaltende Badeseife namens „Baby Magic – Calming Baby Bath Lavender and Chamomile“ seit dem Säuglingsalter ausgesetzt war. Sechs Monate nach Absetzen dieser Exposition bildete sich das Drüsengewebe zurück.
Fall 3: Ein knapp 8-jähriges Mädchen saß ein Jahr lang in der Nähe ihrer Lehrerin, die einen ganztags arbeitenden Aroma-Diffusor mit Lavendelöl (sic) auf ihrem Tisch hatte. Auch sie zeigte eine frühzeitige einseitige Brustentwicklung, welche sich drei Monate nach Abbruch der Exposition zurückbildete.
Fall 4: Ein fast 8-jähriger Bub zeigt im Alter von 4 Jahren eine Brustvergrößerung, die die Autoren auf die Anwendung des Lavendelöl-Produktes (sic) namens „Crusellas Violet Water Cologne“ seit Säuglingsalter zurückführen. Auch hier konnten die Studienautoren die Rückbildung der Brust sechs Monate nach dem Absetzen dieses Parfums dokumentieren.
Was kann zu diesen Fallbeispielen gesagt werden? Nun ja, in keinem einzigen Fall kann nachvollziehbar gesagt werden, dass es sich um naturreines bzw. Lavendelöl in Arzneibuchqualität handelte. Selbst die Raumbeduftung muss nicht zwangsläufig reines Lavendelöl gewesen sein. Die anderen drei Produkte enthalten Lavendel höchstens im Namen.
Das „Baby Magic – Calming Baby Bath Lavender and Chamomile“ enthält kein Lavendelöl, sondern ein nicht näher definiertes Lavendelblütenextrakt.
Das Duftwasser namens „Mi Tesoro Agua de Violetas“ dürfte laut einer gaschromatographischen Untersuchung des kanadischen Laboratoriums PhytoChemia (628 Boulevard du Saguenay Ouest, Saguenay, Québec G7J 1H4 Canada) niemals mit ätherischen Ölen in Kontakt gekommen sein. Das Laboratorium bestätigt den Verdacht, dass ein Produkt dieser Preisklasse mit synthetischen Duftstoffen arbeitet. Sie konnten in dem Produkt weder Linalool, Linalylacetat noch Caryophyllen nachweisen. Dafür fanden sie größere Mengen von bedenklichen Diphthalaten im Produkt.
In „Crusellas Violet Water Cologne“ ist auch kein Lavendelöl zu finden. Doch konnten hier wenigsten geringe Mengen an Linalool und Linalylacetat nachgewiesen werden.
Es muss also festgehalten werden mit welcher Dreistheit die Verbindung zwischen Lavendelöl und den beschriebenen Produkten hergestellt wurde, da meist nicht einmal auf den Verpackungen der Name Lavendel zu finden ist – nicht einmal zum Werbezweck.
Zwar schützen sich die Autoren dieser Fallberichte mit der Bemerkung der Annahme, dass Produkte, die Lavendelöl als Bestandteil angaben, auch verlässlich Lavendelöl enthalten. Wermutstropfen: Auf keinem einzigen der Produkte ist Lavendelöl als Zusatz angegeben!
Aus aroma- und phytotherapeutischer Sicht ist diese grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Lavendelöl sehr in Frage zu stellen, da sich die Grundlage dieser Verdachtsmomente nur aus Einzelfällen zusammensetzt und zudem ein nicht prospektives Studiendesign heranzieht. Dabei ist die fehlende Überprüfung, ob die Produkte auch tatsächlich Lavendelöl enthalten, gar nicht berücksichtigt.
Ob es sich bei diesen beschriebenen Risiken also um eine echte Korrelation zwischen Lavendelöl-Anwendung und negativem Effekt handelt, kann gar nicht nachvollzogen werden. Zwar konnten in vitro Experimente einen hormonartigen Effekt nachweisen, doch ist die dabei eingesetzte Dosierung nicht mit der inhalativen oder transkutanen Aufnahme der in den Fallberichten beschriebenen Lavendelduft-Produkte zu vergleichen.
Hinzu kommt auch noch, dass die Opfer der Fallberichte nicht zu jener Zielgruppe zählen, bei der Lavendelöl gerne eingesetzt wird. So wird Lavendelöl sehr gerne bei der Vorbereitung der Haut auf die Strahlentherapie bei Frauen mit Brustkrebs genutzt (Bühlmann, 2016), wobei die aus der Erfahrung bekannte schmerzstillende Wirkung des Lavendelöls geschätzt wird.
Von besonderer Bedeutung bei dieser Thematik ist auch der Umstand, dass es ein standardisiertes Lavendelöl-Produkt zur peroralen Einnahme gibt, dessen umfangreiche präklinischen und klinischen Studiendaten keinerlei Hinweise auf östrogene Eigenschaften bieten. Auch liegen den nationalen und europäischen Arzneimittelbehörden keine entsprechenden Verdachtsmomente vor, die derartige Sicherheitsbedenken begründen könnten.
Somit können wir festhalten, dass natürliches Lavendelöl und Produkte daraus keine besonderen Gefahren für die Anwendung bei Gesunden und Kranken darstellen.
Original erschienen in phytotherapie.at – Ausgabe 6/2022
Heinrich Justin Evanzin
Mag. pharm. Dr. med. univ.
AG Medizinische Aromatherapie | ÖGwA
Kooptiertes Vorstandsmitglied ÖGwA